German translation of the joint op-ed, Rüya Buga & Anna Laeticia Rauchenwald & Henri Schultz, 11 December 2024
Ein lebenswertes Europa kann wieder Hoffnung in der Jugend wecken
Als das Vereinigte Königreich für den Brexit stimmte, war Laura zu jung, um zu wählen. Acht Jahre sind vergangen, aber sie erinnert sich noch an den Morgen, an dem die Ergebnisse veröffentlicht wurden. An diesem Tag ging sie niedergeschlagen zur Schule, und die meisten ihrer Klassenkamerad*innen teilten dieses Gefühl. Das Votum sei für eine ganze Generation entscheidend gewesen, sagt sie, und später, bei der Bewerbung an Universitäten, sei klargeworden, wie viele Möglichkeiten ihnen genommen worden seien. Obwohl die Mehrheit der jungen Menschen gegen den Brexit stimmte, besiegelten die Stimmen der älteren Wählerschaft die Entscheidung für den Austritt aus der Europäischen Union (EU).
Während die Bürger*innen des Landes, das die EU verlassen hat, die Vorteile der EU erst nach dem Austritt erkennen, ist die Bevölkerung der Länder, die seit Jahren eine EU-Mitgliedschaft anstreben, zunehmend frustriert.
Tesa aus Priština erklärt, dass die junge Generation Kosovos in dem Glauben aufgewachsen sei, dass die Zukunft ihres Landes in der Europäischen Union liege. Mittlerweile ist diese Perspektive zunehmend unsicher geworden und die EU-Informationskampagnen über eine europäische Zukunft des Kosovo wirken auf den Großteil der Bevölkerung fehl am Platz und realitätsfern. Die unzureichende Kommunikation der EU führt dazu, dass die Hoffnungen der jungen Menschen zunehmender EU-Skepsis weichen.
Handeln, bevor es zu spät ist
Ana ist aus Zagreb und ist überzeugt, dass der EU-Beitritt für die Menschen in Kroatien eine einmalige historische Errungenschaft war. Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Beitritt sind die bedeutenden Auswirkungen der EU-Mitgliedschaft in der Gesellschaft immer noch spürbar, vor allem in den Bereichen Finanzen und Infrastruktur. Allerdings ist auch die Meinung verbreitet, dass die politischen Entscheidungsträger*innen keinen Bezug zum alltäglichen Leben der Menschen hätten und dass die Stimmen kleinerer Länder weniger Gehör fänden.
Es gibt viele Faktoren, die die öffentliche Meinung zur EU beeinflussen. Kommunikation oder gar deren Mangel ist einer davon. Die europäischen Werte, wie Demokratie, Menschenrechte, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit wurden bereits unzählige Male diskutiert und sind in den Verträgen verankert. Doch deren Umsetzung und Schutz sind eine ganz andere Geschichte und weitaus schwieriger zu bewerkstelligen.
Wie steht es um unsere Werte?
Die gegenwärtige Politik in Europa ist geprägt von geopolitischer Fragmentierung und Konflikten. Es heißt, Europa müsse eine aktivere Rolle in der Welt einnehmen. Während wir uns um unsere Sicherheit sorgen, sehen wir aber auch unsere Werte in Gefahr. Unsere Demokratie steht auf dem Spiel, unsere Volkswirtschaften schrumpfen, unsere Gesellschaft wird misstrauischer und gespaltener und immer mehr Menschen stellen die EU und die Werte, für die sie steht, in Frage.
Darüber hinaus sieht sich die EU häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, bei der Durchsetzung ihrer demokratischen und menschenrechtlichen Grundsätze mit zweierlei Maß zu messen oder einseitig zu agieren. Hinzu kommen die wachsenden Sorgen um bezahlbaren Wohnraum, ein leistbares Leben, Umweltzerstörung, soziale Ungerechtigkeiten und der Frust über die nur langsam mahlenden Mühlen der EU-Erweiterung. All diese Entwicklungen führen dazu, dass die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst und die junge Generation innerhalb und außerhalb der EU immer weniger Hoffnungen in das europäische Projekt setzt.
Was wollen Laura, Tesa, Ana – und wir alle?
Wir fordern Gleichheit für alle! Von Regeln, die für alle EU-Mitglieder gleichermaßen gelten, bis hin zu einer Politik, die sich von der Spitze bis zur lokalen Ebene an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert.
Wir brauchen eine EU, die proaktiv handelt und die unterschiedliche Realitäten ihrer Mitglieder widerspiegelt, ohne dass geopolitischer Pragmatismus und Eigeninteresse den Entscheidungsprozess bestimmen. Eine EU, die in der Lage ist, Ressourcen entsprechend zu verteilen und lokale Unternehmen und Industrien zu schützen. Ein lebenswertes Europa berücksichtigt den spezifischen Kontext eines jeden Landes und einer jeden Region und hält seine Türen für all diejenigen offen, die unsere europäischen Werte teilen.
Wir fordern deshalb eine EU, die sich darum bemüht, die westlichen Balkanländer vollständig in die Grüne Agenda zu integrieren und sicherzustellen, dass Klimaschutzmaßnahmen kein Hindernis, sondern ein Weg zum EU-Beitritt sind. Die EU muss dabei ausreichende finanzielle und technische Unterstützung leisten, damit sich die Kluft zwischen den Idealen der EU und der Realität der Kandidatenländer nicht weiter vergrößert.
Zu viele Europäer*innen haben das Gefühl, dass sie die EU-Politik nichts angeht und nehmen auch nicht wahr, wie diese ihr alltägliches Leben beeinflusst. Aus diesem Grund ist es umso wichtiger, Wissen und Bewusstsein zu schaffen und das nicht nur in den Mitgliedstaaten, sondern auch in den Kandidatenländern. Wir streben deshalb nach einem Europa, das informierte Bürger*innen fördert, indem es Reform- und Erweiterungsprozesse noch transparenter und Informationen über Beweggründe, Verhandlungen und Ergebnisse noch zugänglicher macht. Falsche Vorstellungen und Mythen können entkräftet werden, indem gezielte Informationsangebote, reale Partizipation und auf die Regionen speziell zugeschnittene Kampagnen ins Leben gerufen werden. Kommunikation und Partizipation muss bereits in den Schulen und Gemeinschaften ansetzen, um die EU-Politik für Menschen auf kommunaler Ebene greifbarer und umsetzbarer zu machen. Gleichzeitig müssen die Beitrittskandidaten in die Pflicht genommen werden, ihre Länder über rein formale Reformschritte hinaus zu transformieren. Die EU muss in ihren Bemühungen konsequent und mutig sein, damit sie für zukünftige Herausforderungen besser gewappnet ist.
Ein lebenswertes Europa ist ein geeintes Europa. Wir brauchen eine EU, die Populismus und Nationalismus auch über ihre Grenzen hinaus bekämpft, indem sie sowohl in Bildung als auch in die Vermittlung ihrer Werte aktiv investiert und als positives Beispiel in ihrer Umsetzung voranschreitet.
Nur ein Europa, das seinen Ansprüchen gerecht wird, ist ein lebenswertes Europa. Und nur ein lebenswertes Europa ermöglicht jungen Generationen eine kollektive europäische Identität, die neue Hoffnung schenkt. Das ist das Europa, das wir wollen!
Dieser Op-Ed wurde während der „Cres Summer School“ 2024 von 18 jungen Menschen aus 13 europäischen Ländern auf der kroatischen Insel Cres verfasst. https://summerschool.oegfe.at